Neue Messmethode: Von der Genaktivität einer Nervenzelle auf ihre Funktion und Gestalt schließen

Hinweise für die Autismus- und Schizophrenieforschung

23.12.2015 - Deutschland

Wissenschaftler vom Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN) der Universität Tübingen haben zusammen mit Kollegen aus den USA und Schweden eine neue Methode entwickelt, genannt „Patch-seq“, mit der sie von der Genaktivität einer Nervenzelle auf deren Funktion und Gestalt schließen können. Damit kann erstmals ein direkter Zusammenhang zwischen den aktiven Genen und den elektrophysiologischen Eigenschaften einzelner Nervenzellen hergestellt werden. Die Methode könnte unter anderem für die Autismus- und Schizophrenie-Forschung entscheidende Hinweise liefern.

Das Forscherteam unter Beteiligung von Dr. Philipp Berens und Professor Matthias Bethge vom CIN, Professor Rickard Sandberg vom Karolinska Institutet in Stockholm und Dr. Andreas Tolias vom Baylor College of Medicine in Houston/Texas wählte für seine Untersuchungen den Neocortex bei Säugetieren, der für höhere Hirnfunktionen zuständig ist. Dies sind beim Menschen beispielsweise das räumliche Vorstellungsvermögen, bewusstes Denken und Sprache. In der sehr dünnen äußersten Schicht des Neocortex gibt es nur zwei Typen von Nervenzellen. Die Wissenschaftler können sie anhand ihrer Gestalt (Morphologie) als auch anhand ihrer Aktivitätsmuster (Physiologie) unterscheiden.

Prinzipiell sind bei Unterschieden in der Morphologie und Physiologie auch unterschiedliche Muster der Genaktivität zu erwarten. Aktive Gene werden in der Zelle in eine entsprechende Ribonukleinsäure (RNA) kopiert, die die Wissenschaftler mit Hilfe der von ihnen entwickelten neuen Methode nun sogar in einzelnen Zellen im intakten Gewebe messen können. In der Studie gingen sie der Frage nach, ob sie dieses genetische Profil einzelner Nervenzellen direkt mit ihrer Physiologie und Morphologie in Verbindung bringen können. Sie nahmen an Mäusen elektrophysiologische Messungen an einzelnen lebenden Zellen vor, während sie gleichzeitig RNA-Moleküle daraus absaugten. In einem Prozess, den die Forscher „Patch-seq“ nennen, verbanden die Forscher zwei Methoden miteinander: „Patching“ bezeichnet eine bestimmte Art und Weise, die elektrischen Impulse an einer Nervenzelle zu messen; Sequenzierung ist das Auslesen eines Gens oder wie hier der RNA. So gelang ihnen erstmals eine eindeutige Zuordnung genetisch bestimmter Zelltypen zu den gleichzeitig gemessenen physiologischen Eigenschaften. Die von den Tübinger Wissenschaftlern beigesteuerten Lernalgorithmen waren darüber hinaus in der Lage, die Morphologie und Physiologie der betreffenden Zellen vorherzusagen.

Ein vielversprechendes Ergebnis der Studie: Einer der beiden untersuchten Zelltypen zeigt eine besonders hohe Aktivität bei vier Genen, die im Verdacht stehen, für autistische Störungen und bestimmte Formen der Schizophrenie verantwortlich zu sein. Die Wissenschaftler erhoffen sich daraus ein besseres Verständnis der Wirkmechanismen dieser Krankheiten. Auch sonst steht den Neurowissenschaften nun ein Instrument zur Verfügung, mit dessen Hilfe eine Synthese genetischer und physiologischer Erklärungsansätze möglich ist.

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